Kaum jemand träumt beim Schneiden eines guten Steaks von einer eigenen Metzgerei. Oder beim Beißen in ein knuspriges Brötchen vom eigenen Bäckereibetrieb. Aber fast jeder von uns hat sich schon mal beim Trinken einer wirklich guten Flasche Wein ausgemalt, wie es wäre, Winzer zu sein. Die Weinlese im goldenen Herbst, ein Leben zwischen Fässern und Festen – über kaum einem Beruf schwebt so eine romantische Traumwolke wie über dem eines Winzers.
Aber wie viel Traum steckt wirklich drin und wie viel Wolke? Die zuverlässigste Möglichkeit es herauszufinden, ist an einer Weinlese teilzunehmen. Also fuhr ich an die Mittelmosel, um im Weinort Lieser die letzten Rieslingtrauben von den Reben zu schneiden. Denn wo sonst, wenn nicht hier? Die Moselregion ist das größte zusammenhängende Rieslinganbaugebiet der Welt. Und das steilste. Schätzungsweise 60 Millionen Rebstöcke stehen in den schwindelerregenden Weinbergen Spalier – an manchen Stellen beträgt die Neigung 68 Grad, fast so steil wie eine Skisprungschanze.
Mein Arbeitshang ist etwas gnädiger mit mir – hier sind es lediglich 45 Grad. Er liegt direkt hinter dem „Schloss Lieser“. Der Prunkbau aus dem 19. Jahrhundert wurde erst vor einem Jahr für Übernachtungsgäste geöffnet, avanciert aber jetzt schon zum zauberhaftesten Hotel der Moselregion. Das Schloss hat nämlich etwas von Hogwarts für Erwachsene. Denn neben einer langen Bar, einem langen Pool und langen Regalen im historischen Weinkeller hat es eine weitere Besonderheit: den 100 Hektar großen Lieser Schlossberg dahinter. Das entspricht einer Million Litern Wein pro Jahr! Also bietet das Hotel seinen Gästen an, im Herbst an der Weinlese teilzunehmen – hier bekomme ich schon einmal eine gute Vorstellung vom Winzer-Job.
Anlässlich der Weinlese wird am Abend im Schloss-Restaurant „Puricelli“ ein Weinlese-Menü serviert. Denn hier kocht kein geringerer als Wolfgang Preßler. Der gebürtige Österreicher wechselte vom Aqua (drei Michelin-Sterne) in Wolfsburg an die Mosel. Alle Gänge werden nicht nur von den passenden Weinen vom Gut „P. Stettler-Söhne“ begleitet, sondern erhalten auch selbst das Beste aus der Traube. Wie z.B. Wachtelbrust mit Risotto, Traubengel und Verjusschaum oder Cremesuppe vom Federweissen.
Aber erst die Arbeit: Ich bewaffne mich mit einer Kiste und einer Schere und spaziere hinter das Schlossgebäude, hoch auf den Hang. Etwa 1000 Reben wachsen allein an diesem Hang, unsere Ernte wird 2000 Flaschen Riesling ergeben. Motivation genug. Kaum setze ich die Schere an, um die grüngelben kleinen Traubenzweige abzuschneiden, schon merke ich, wie meine Schuhsohlen den Halt verlieren und ich den Hang weniger elegant runterrutsche. Das fängt ja gut an! „Die Balance kommt mit der Zeit“, sagt mir Gerhard Stettler (67). Mit seinen beiden Söhnen Mario und Sebastian bewirtschaftet er den Schlossberg seit mehreren Generationen. „Der perfekte Mitarbeiter ist in dieser steilen Lage eine utopische Vorstellung. Da müsste ja ein Bein länger als das andere sein“, lacht er.
Aber warum bauten die Winzer überhaupt in so schwierigen Lagen an? „Weil der Wein viel Licht und Wärme braucht, um zu gedeihen. In südlichen Ländern wachsen die Reben meist in der Ebene. Doch hier im Norden bekommen sie von beidem mehr an steilen Südhängen ab“, erklärt Gerhard Stettler. Außerdem spiegelt der Fluss die Sonne, während der Schiefer ihre Wärme speichert und nachts die Pflanzen damit versorgt. Dass die Mosel so viele Schleifen zieht, ist ein Segen. Denn dadurch entstanden reichlich nach Süden gerichtete Hänge am Ufer. Deshalb schmeckt auch der typische Mosel-Riesling so fruchtig-frisch, mit der Würze des Millionen Jahre alten Schiefergesteins. Das heißt gleichzeitig auch: Bei der Ernte braucht man Muskelkraft und teure Handarbeit.
Auch, wenn mein Halt immer besser wird, schaffe ich gerade einmal eine volle Kiste – in derselben Zeit bekommen die Erntehelfer neben mir fünf davon voll. Ein erfahrener Erntehelfer kann bis zu 400 kg am Tag lesen. Nach einer Stunde steht eindeutig fest: Ich bin talentierter am Glas als am Hang!
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