Berlin
Draußen zieht der feuchte Winternebel über die Kantstr., drinnen wabert der Dampf aus den riesigen Stahltöpfen, versetzt den hineineilenden Gast beim Betreten des Lokals sofort in eine andere Welt: befindet man sich hier vielleicht in einer Garküche in einer vietnamesischen Provinz? Doch lange hält die Ungewissheit nicht an, sitzen doch dicht gedrängt auf den Holzbänken Kreuzberger Hipster neben Charlottenburger Galeristen und Geschäftsleuten, dazu läuft dezente Housemusik.
Wir befinden uns in Charlottenburg und die Gästemischung bei „Madame Ngo“ ist wirklich beachtlich, zieht es doch Hipster eher selten und gegen alle Widerstände in die City-West.
Da müssen schon sehr triftige Gründe wirken – und Meister Duc Ngo, der Initiator und Inhaber des „Madame Ngo“ beherrscht sie, wie kein zweiter. Der Ende der 1970iger Jahre als nordvietnamesischer Flüchtling nach Berlin gelangte Ngo, ist der Grund dafür, dass die Kantstr. ihr altes Schmuddel-Image heute endlich hinter sich lassen konnte – und nun eine Reise wert ist.
Mit seinem „Kuchi“, dem „Next to Kuchi“, dem erst kürzlich eröffneten edlen „893“ und dem fantastischen „Madame Ngo“ war er der Vorreiter eines Wandels in dieser Straße, der inzwischen immer mehr angesagte Gastronomen anzieht, während der Ku’damm kulinarisch fast keine Rolle mehr spielt.
Und so drängeln sich die Gäste an den engen Tischen des „Madame Ngo“ im vorderen Teil, genauso wie im hinteren Bereich, wo man mehr Abstand und mehr Platz hat. Es hat etwas Entschleunigendes, die vielen Menschen ins Lokal kommen und gehen zu sehen, und dabei die langsam immer weiter (bis zu 10 Stunden) vor sich hin köchelnde Brühe aus Lauchzwiebeln, Geflügel, Koriander, Pilzen und allerlei Gewürzen zu beobachten.
Tagsüber bestimmen diese gesunden Suppen alles im „Madame Ngo“, abends ergänzen kulinarische Leckereien mit französischem Einfluss das Angebot, das Lokal wird zur Brasserie.
Immer wieder überraschen einen dann Gerichte mit neuen Geschmackselementen, wie zum Beispiel die gebratenen Garnelen auf Kräutern. Die unglaublich zarte Wachtel, dazu 5 Gewürze mit Kopfsalat und Crème Fraîche ist auch ein Beispiel für diese geschmackliche Erlebnisreise, die einen hier fasziniert. Der Lachs mit Galgant-Curcuma Curry und Reis ist ein einzigartiges Erlebnis, das ebenso nachwirkt. Wunderbar dekoriert, betont es andere Geschmacksnuancen, als die erwarteten und übertrifft diese noch.
Der Meister dieser Interpretationen, Duc Ngo, stammt ursprünglich aus Hanoi, seine Familie hat chinesische Wurzeln.
Ngo: „Als Chinesen wurden wir plötzlich diskriminiert, als es politische Spannungen zwischen China und Nordvietnam gab.“ Als seiner Familie nach und nach auch die wirtschaftliche Existenz entzogen wurde, blieb nur noch die Flucht! Ngo: „Wir bezahlten einer Schleuserbande damals viel Geld und wurden mit 80 Menschen auf einer 30-Personen Dschunke über das südchinesische Meer geschippert.“ In Hongkong angekommen, hoffte die Familie eigentlich auf Weiterreise nach USA, Australien oder Kanada. Doch nur Chile und West-Berlin gewährten Asyl. Duc: „Wir wurden nach dieser schlimmen Zeit sehr herzlich in Berlin aufgenommen, das werde ich nie vergessen. Dann zogen wir nach Charlottenburg und ich konnte dort auch mein Abitur machen!“ Sein erster Zugang zur Gastronomie kam über die Familie, über seinen Onkel. Ngo schaute sich viel ab und begann schon früh selbst Gerichte auszuprobieren.
Für die japanische Küche entwickelte er eine ganz besondere Leidenschaft, setzte sich mit den Zen-Gedanken und der Philosophie auseinander und begann Japanologie zu studieren.
Sein Startgeld in die eigene Gastronomie erwirtschaftete Ngo Ende der 1990iger Jahre mit einem sehr hochdotierten Auftrag eines russischen Geschäftsmannes. Damals war Sushi in Moskau total angesagt, fähige Sushimeister aber rar – und Geld spielte keine Rolle. Ngo nutzte die Gunst der Stunde, zog nach Moskau und verdiente in kürzester Zeit viel. Nach einem anschließenden kurzen kulinarischen Bildungs-Aufenthalt in New York eröffnete er dann sein erstes eigenes Restaurant, das „Kuchi“. Ein großer Erfolg für Ngo, der Wellen schlug. Sein nächster Meilenstein in Ngos Gastrolaufbahn war ein Projekt, das er für Frankfurts Top-Gastronomiebetreiber Micky Rosen und Alex Urseanu („Gekkogroup“) entwickelte: das „Moriki“ und ein „Kuchi de luxe“ in den Zwillingstürmen der Deutschen Bank in Frankfurt. Die Partnerschaft und Achse Frankfurt-Berlin hält bis heute an und trägt immer neue Früchte.
So ist auch das „Madame Ngo“ ein Gemeinschafts-Projekt des kreativen Dream Teams, zu dem sich bald noch das „Provocateur Hotel“ in Berlin dazugesellen wird.
Doch zurück in die herrliche, loungige Welt des „Madame Ngo“. Zehn verschiedene Sorten der Phô sind dort im Angebot. Die feine regionale Differenzierung der einzelnen Suppen und das nuancierte Angebot sind das Alleinstellungsmerkmal. So sind die südvietnamesischen Suppen zum Beispiel substanzieller, geschmacksintensiver und auch schärfer als die nordvietnamesischen. Beide Arten sind im „Madame Ngo“ zu haben!